Die Tür des Behandlungszimmer 2 geht auf, eine Frauenstimme sagt: Sie können Ihre Hose hier ablegen. Die Tür wird geschlossen. Jemand schnauft. Eine Gürtelschnalle ist zu hören, dann ein Beugen, ein Ächzen. Die Atmung ist laut und männlich. Der Gürtel berührt einen der metallenen Pfosten des Ablagestuhls. Der Mann setzt sich auf die Behandlungsliege mit dem Loch am Kopfende, das Ärztekrepp verrutscht, es knistert über dem PVC-Leder.
Dann lehnt sich der Mann gegen die Wand unmittelbar hinter der Behandlungsliege. Die Wand knackt leicht. Der Mann wiederholt seine Bewegung, seine Schulterblätter knallen gegen die Wand, die Wand knackt wieder. Er verlangsamt seine Atmung, dann ist er still.
Im Behandlungszimmer 1 öffne ich schlagartig meine Augen, sie werden groß und weit, das kann ich spüren. Ich starre auf den Heizungskörper vor mir. Heiermeier steht auf dem Temperaturregler und in früheren Sitzungen dachte ich bereits darüber nach, meinen Orthopäden künftig Heiermeier zu nennen. Zumindest für den privaten Gebrauch. Trotz der Ulkigkeit des Namens kann mich Heiermeier aber jetzt nicht beruhigen, denn ich befinde mich ebenfalls auf einer Behandlungsliege, die mit PVC-Leder überzogen und mit Ärztekrepp ausgelegt ist, ich habe 20 Nadeln in der oberen Hautschicht meines Körpers und ich stelle mir vor, wie die Wand, an die sich der Mann im Nebenzimmer lehnt, nachgibt, nach hinten kippt und Mörtel, Last und Körper auf mir landen. Mein Gedanke kommt mir nicht abwegig vor, denn diese Räumlichkeiten sind in ihren Konstruktionen so fragwürdig, wie mein Gehirn überwältigt ist von der Vorstellung einer einstürzenden Wand samt einfallendem Mann. In meiner rechten Wade zieht es, ich spüre die Nadel bis tief unter die Haut. Orthopäde Heiermeier ist der Meinung, dass ich nicht entspannen kann. Orthopäde Heiermeier hat sich wohl aber noch nie seine Behandlungszimmer im Detail angeschaut.
Die beiden Behandlungszimmer 1 und 2 bestehen aus einem Raum, der offenbar durch eine Rigipswand geteilt wurde. Die Rigipswand ist ordentlich verputzt und strahlt die handelsübliche Kühle einer weiß gestrichenen Wand aus. Jene emotional abweisende Wand endet an einem Fenster. Und zwar in der Mitte eines großen, sich über die Breite des ursprünglichen Raumes erstreckenden Fensters. Genauso verhält es sich mit der Heiermeier-Heizung.
Während ich in Behandlungszimmer 1 den Temperaturregler betrachte, kann der Mann in Behandlungszimmer 2 den hinteren Teil des Heizkörpers in Augenschein nehmen. Die Deckenleuchte beginnt bei mir und endet bei ihm – die Behandlungszimmer einen uns auf kafkaeske Weise als Patient. Wir teilen uns Fußboden, Fenstersims, Lichtschalter und die Gespräche mit Orthopäde Heiermeier. Der andere Patient hört, was ich sage, ich höre, was er sagt und Heiermeier verbindet Themen und Stimmungen durch die Wand hinweg zu einem alles erklärenden Ganzen.
Bei so viel Intimität wäre ein Zusammentreffen eigentlich konsequent. Trotzdem fände ich es schöner, wenn die Rigipswand nicht einsacken würde, denn ich habe keine Lösung für mein Problem.
Egal, wie meine körperlichen Schutzreaktionen ausfallen würden: Die Nadeln würden ihr Übriges tun. Ich würde durchstochen werden von verdammt langen Akupunktur-Nadeln, die einzeln verpackt in einer Pappschachtel auf dem Fenstersims aufbewahrt werden, was meiner Meinung nach keinesfalls ein Indiz für hygienische Sauberkeit darstellt. Ich könnte mich im Fall eines Wandeinsturzes seitlich auf den Boden fallen lassen und versuchen unter die Liege zu robben. Dabei müsste ich zumindest das rechte Bein ausgestreckt lassen, wegen der Nadel in meiner Wade und Rückenbelastung vermeiden, wegen der 19 anderen Nadeln, bei denen ich nicht so genau weiß, wo sie jetzt genau stecken. Dann müsste ich nur noch darauf hoffen, dass die Liege unter der Last der eingestürzten Wand und des wahrscheinlich unter Schock stehenden Mannes nicht nachgibt und dass die Arzthelferin mich nicht schon wieder 40 Minuten statt der angegebenen 20 Minuten in Behandlungszimmer 1 liegen lässt. Dann hätte ich vielleicht nur ein paar tiefere Einstiche in Rücken und der Wade und vielleicht könnte ich dann nach einer kurzen stationären Behandlung im nächst gelegenen Krankenhaus auch schon wieder nach Hause. Unterwegs gibt es bestimmt eine Bäckerei, dann wäre das Frühstück auch gesichert und – Ach herrje, sagt da eine Frauenstimme. Der Doktor hat die Nadeln dieses Mal aber wirklich tief reingesteckt, haben Sie Schmerzen? Nebenan höre ich das Klackern der Gürtelschnalle.
Erstveröffentlicht auf Stadtnotizen.