»Das zerstörte Nest« von Rabindranath Tagore gibt es heute für vier Euro. Es liegt auf dem »Reduziert«-Stapel draußen vor dem Antiquariat. Zum ersten Mal seit Monaten wärmt die Sonne Kopf und Körper, Mützen werden weggepackt, und auch die Handschuhe. Noch ist Winter, aber heute lädt das Wetter zum Bummeln ein.
Von einem Moment auf den nächsten stehen hinter und neben mir drei Frauen und ein Mann. Äußerlich geduldig warten sie darauf, dass ich den Platz vor den Büchern mit dem Pappschild »Romane« frei mache. Es sind zwei schmale Kisten, der Großteil des Tisches wird von den Kategorien »Krimi«, »DVD«, »Englische Sprache« und »Reiseführer« eingenommen. Heute bleiben sie unberührt. Ich nehme das Buch von Tagore in die Hand und stelle mich zur Seite.
Der Bedarf ist groß. Eine der Frauen sucht systematisch nach rot gefärbten Covern. Frédéric Beigbeders »Der romantische Egoist« nimmt sie erst interessiert in die Hand, stockt aber nach einigem Rumblättern gleich wieder – wahrscheinlich ist sie auf den Satz »Sonntag. Ich habe UGV mit mir selbst.« gestoßen. Das Buch stopft sie zurück in die Kiste, und zwar nach ganz hinten. Eine weitere liest in einem Taschenbuch, das auf der Rückseite mit »Der Roman gegen Liebeskummer« angepriesen wird. Zwei Frauen unterhalten sich über die Ferrante-Bücher und darüber, dass sie am liebsten entsprechende und in jedem Fall preisgünstigere Pendants finden möchten. An ihnen vorbei beugt sich der Mann. Viel Auswahl hat er von seiner Position aus nicht. Er greift zum nächst gelegenen Büchlein, »Altchinesische Liebeskomödien« steht drauf. Ganz glücklich scheint er damit nicht zu sein. Verlegen fährt er sich mit der einen Hand über die kahle Stirn, während er in der anderen das Buch dreht und wendet, ein wenig hilflos, aber schon mit der Hoffnung besetzt, durch das beharrliche Drehen und Wenden Titel und Geschichte ändern zu können. In »Neue chinesische Liebespraktiken« vielleicht oder einfach nur in »Liebe«.
Ich schaue auf meinen dünnen Band. »Ein Frauenschicksal im modernen Indien« steht auf dem Klappentext und dass der Kurzroman von einer Frau handelt, die ihren Mann verlässt, weil sie sich in einen Studenten verliebt, dann aber merkt, dass der Jüngere auch nicht das Wahre ist. Ich lege es zurück und gehe weiter. Vor Hugendubel bleibe ich noch einmal stehen. Unter dem Schild »Zwei zum Preis von einem« werden die Bücher thematisch in »Fantasy«, »Kochbücher« und »Belletristik« aufgeteilt. Bunte Cover mit Herzschmerz-Geschichten überwiegen. Lauter Trennungen unter drei Euro. Da tauchen die beiden Ferrante-Frauen wieder auf und ich höre, wie die eine zur anderen sagt: »Für Liebesgeschichten ist es wohl noch zu früh. Die werden dann wahrscheinlich im Sommer verramscht.«
13:22 Uhr
Kiel, Holtenauer Straße