»Alles im Leben hat seine Zeit« ist in schwarzem Graffito auf der Fahrerseite des Autos zu lesen, das auf einer eingezäunten Brachfläche neben der S-Bahn-Haltestelle Marienehe steht. Vermutlich ist es ein Ford Capri, zweite Generation. Das Metallic Grau schon abgestumpft; von der langen Schnauze über das flache Dach bis hin zum kurzen Heck ziehen sich zwei blaue Streifen. Da wollte einmal jemand Rennfahrer sein, auf der Überholspur des Lebens, auch dafür braucht es Zeit.
Das Auto ist der einzige Grund, weswegen ich nachschaue, wo ich bin. Ich möchte eine Geschichte haben für diesen Ort, den biblischen Satz einbetten in Bahngespräche und Beobachtungen, am Ende vielleicht mit Verweis auf den gleichnamigen Tabaluga-Song, als ironisch gebrochene Pointe, oder als eine über die Erzählung hinausgehende Andeutung, die hochtrabende Vermutungen anstellt über das Dasein, seinen Sinn und den ganzen Witz dabei. Ich möchte das, genau hier, auf dem Weg nach Warnemünde. Niemand aber redet an diesem Nachmittag und niemand hat etwas zu sagen, nicht über Marienehe und nicht über das Leben.
Ich harre aus, ich fahre die Strecke noch vier, fünf Mal, nicht ein Mal steige ich aus. Über Marienehe habe ich mittlerweile alle historischen Eckdaten. Im schläfrig-sirrenden Ton des an Geschwindigkeit zu- und abnehmenden Zuges bringe ich alles durcheinander.
Ich sehe Fische vor mir, die fliegen können, dank Kriegstechnologie mittels Strahltriebwerke durch Rückstoßantrieb. Wild puffen sie an der gläsernen Bahnstation entlang und verpassen ihre Anschlusszüge, denn die Länge des Bahnsteigs verdoppelt sich mit jedem Knattern, das die Fische erzeugen. Auf der Bahntrasse werfen Kartäuser-Katzen in Mönchskutten klobige Steine gegen die oberirdisch angelegten Fernwärmeleitungen, mit einer Trillerpfeife im Mund gibt Peter Maffay den Takt an. Auf seiner blauen Uniform ist die Aufschrift »Fischkombinat Rostock« händisch durchgestrichen, darunter steht als bunter Tag »Reformation«.
»Warum muss man denn immer ans Meer wollen?«, fragt da eine Frau ihre Begleitung. Beide sitzen vor mir und schauen aus dem Fenster. Das blaue Krangerüst der Warnow Werft ist zu sehen und der Himmel, der sich zusammensetzt aus Hunderten von Betonklötzen, die gefühlt immer näher kommen, mir ja ein bisschen zu nah. »Ist wie ne unbemalte Leinwand, beruhigt halt«, sagt die Begleitung, und dann nichts weiter.
16:37 Uhr
Rostock, S-Bahn-Haltestelle Marienehe