Im Schienenersatzverkehrbus rotzt ein zwei Meter großer Mann auf den Boden. Ich denke noch einmal darüber nach. Ja, es müssten schon zwei Meter sein, er wirkt ja so raumfüllend, in vertikaler Hinsicht. Sind Businnenräume nach DIN-irgendwas mehr als zwei Meter hoch? Über ihm ist ja noch Platz. Sein lichtes, zur Seite gekämmtes Haar berührt die Decke nicht. Sein Körper nimmt aber auch eine weich gewölbte Haltung ein, denke ich weiter. Das muss an der gerade ausgeführten Aktion/Reaktion liegen (rotzen) oder aber an einer fehlenden individuell-immanenten Spannung. Ja, Spannung, Vertikalspannung, ha! Hier ein Querverweis zu einem Buch, das ich nie gelesen und mit dessen Philosophie ich mich nie auseinandergesetzt habe, schön. Wohlig lasse ich mich in meinen recycelten Polyestermantel sinken. Ein etwas jüngerer Mann im Zweisitzer neben mir kann sich anscheinend nicht so gut entspannen. Er lugt immer wieder zu dem sich weiterhin Raum und Aufmerksamkeit verschaffenden Menschen. Dieser hustet nun, den Mund theatralweit geöffnet. Mit den Händen fasst er im Takt des repetitiven Busbremsvorgangs Haltestangen, Stop-Knöpfe und Sitzbezüge an. Der Bus fährt nun aus der Kopernikusstraße raus, biegt nach links ab. Der Zweisitzer-Mann steht ruhig und kontrolliert auf (hier auf jeden Fall Eigen-Spannung vorhanden). Er hat ja recht, denke ich, als sich die Türen öffnen, ich schlängle mich aus meinem Sitz, fasse gekonnt nichts an und bin draußen. Hinter uns röhrt es noch leise. Das ist aber nicht weiter zu beachten, jetzt sind wir ja mitten auf der Warschauer Straße und da hat man sich mit diversen anderen Spannungen zu beschäftigen. Den Zweisitzer verliere ich auch gleich aus den Augen. Ich starre durch die Kamera meines Handys. Das macht mich zwar optisch zur Touristin, durch die Abwertung der anderen aber wunderbar frei. Auf der Brücke mache ich wie immer ein Spiel draus, den Strom zu durchbrechen, romantisch verklärt auf Schienen und Bauzäune zu schauen und den Fernsehturm. Ach, Berlin. Dunkel ragt der noch im Bau befindliche Monolith neben mir auf. Das ist sowas von Grusel-Scifi, da komm ich fast nicht drauf klar. Dagegen ist die Ubahn-Station gegenüber lost in Steampunk. Das Dunkelgebäude wird mich später auch auf dem Nachhauseweg begleiten. Ich gehe die drei Kilometer dann doch lieber Fuß, wenn sich jemand auf der Straße bemerkbar machen möchte, kann ich ausweichen, im Bus geht das ja nicht so gut. An der Kopernikusstraße Ecke Libauer Straße bleibe ich für einen Moment lang stehen. Es ist, wie ich finde, der beeindruckendste Blick auf die dunkle Zukunft, der Kontrast ist hier am stärksten: Das Kopfsteinpflaster, die Bäume und die Häuserzeilen der Libauer Straße erzählen von Wärme, Heimeligkeit und Rosé in Wassergläsern auf Küchenstühlen samstagsabends vor der Erdgeschosswohnung, als Ersatz für Terrasse oder Garten, ein bisschen südeuropäisch auch, so wie man es sich halt vorstellt. Am Ende war da immer der Horizont. Blick aufs RAW-Gelände, Bahnverkehr und der Geruch nach Party-Anarchie. Jetzt steht da am Ende der Straße, in der Flucht genau mittig, dieses Schloss. Und dann denke ich noch an Kafka, es passt ja alles so gut. »Im ganzen entsprach das Schloß, wie es sich hier von der Ferne zeigte, K.s Erwartungen. Es war weder eine alte Ritterburg noch ein neuer Prunkbau, […] hätte man nicht gewußt, daß es ein Schloß sei, hätte man es für ein Städtchen halten können. Nur einen Turm sah K., ob er zu einem Wohngebäude oder einer Kirche gehörte, war nicht zu erkennen. Schwärme von Krähen umkreisten ihn.«