Feierabend

Geh ich oder geh ich nicht den ganzen Weg, denke ich gehend, am Wasser entlang, mich fragend, ob ich das heute brauche: vier Komma fünf Kilometer geradeaus, keine Steigung, Querung von vier Hauptstraßen, dazwischen meterhohe Wohnungsbaugenossenschafts-Platten, bunte Fahrradstraßen und glänzende Spielplätze, vermutlich EU-gefördert und noch relativ neu. Ich sage Nein, heute nicht und steige in die nächste S-Bahn. Die bringt mich gar nicht so weit wie ich das möchte, sie steht dann auch am Ostbahnhof, bald kommt eine andere aufs gegenüberliegende Gleis, irgendwann sind es vier S-Bahnen nebeneinander. Ich denke, gut. Dann nehme ich halt den Bus. Aber bevor ich den Bus nehme, esse ich was. Also klickere ich mit billigen Holzstäbchen gebratene Dumplings aus einer Edelstahl-Salatschüssel, die der Mann vom Stand entweder in kurzzeitiger Ermangelung eines Tellers mit überaus pragmatischer Geste zur Verfügung stellt. Oder in seiner selbst auferlegten Eile des Machens und Kassierens den vorletzten Schritt beim Ausführen einer Reihe von automatisiert wirkenden Abläufen – u.a. Dumplings aus der Pfanne holen, in einer Salatschüssel mit Chiliöl und Soja-Soße marinieren, die Dumplings auf einen Teller schütten, den Teller der Kundin überreichen – einfach überspringt. Macht nichts, denke ich, kann ja sein, dass andere denken, ich sei Stammkundin und bekomme deswegen die Küchenschüssel zum Auslecken. Ich geb dann auch Daumenhoch, als ich bei der Rückgabe der Schüssel gefragt werde, ob alles okay gewesen sei. Mit meinem Honigmelone-Milch-Bubbletea schlendere ich zur Ersatzverkehr-Haltestelle, da hielt gestern nämlich der Bus, war halt auch ähnlich gestern, S-Bahnen standen still, daraufhin Bus gesucht, etc. An der Haltestelle stehe ich alleine. Das macht mich nur kurz stutzig, der nächste kommt in zehn Minuten, kann sein, dass ich den vorherigen gerade so verpasst habe. Ich schaue in die durch Baucontainer gebrochenen Abendsonnenstrahlen. Schön finde ich das, ich mache ein Foto, obwohl Menschen, die mit teuren Kameras fotografieren, gerne sagen, dass ich das nicht machen sollte: gegen das Licht schießen. Da taucht neben mir eine Frau auf. Sie reicht mir bis zum Brustkorb, ihr Hartschalenkoffer auch. Ob hier der Bus nach Lichtenberg abfahre. Bestimmt, sage ich. Aber es fehlt der Fahrplan, stellt die Frau fest. In der Tat, sage ich. Eine weitere Frau kommt hinzu. Sie zeigt auf die Haltestelle und auf einen Zettel in ihrer Hand, auf dem eine Busnummer steht. Ich nicke, ja, hier sind Sie richtig. Sie tippt auf ihr rechtes Ohr, neigt die rechte Seite zu mir. Ich lehne mich vor, sodass sie meine Lippen noch sehen kann und sage laut das Gleiche. Daumen hoch. Wir warten zu dritt. Die Frau mit dem Hartschalenkoffer erzählt von ihrer Deutschlandticketreise, ihre erste. Sonst immer mit dem ICE nach Zwickau und zurück, jetzt Deutschlandticket. Seit sechs Stunden unterwegs. Kurz vor zu Hause dann das. Die andere Frau stellt sich in mein Blickfeld, zeigt auf ihre Uhr. Sie hat recht: Der Bus sollte schon längst hier sein. Dann fällt ihr ein rotes Schild an der Haltestelle auf: „Diese Haltestelle wird zur Zeit nicht bedient.“ Ich sage laut: Aber gestern bin ich hier noch eingestiegen. Wir drei schauen uns ratlos an. In einer Parkbucht in der Nähe der Haltestelle pausieren Busfahrer. Langsam bewegen wir uns auf die Bucht zu, stehen unsicher am Rand des Bürgersteigs. Ich fühle genau, was in uns vorgeht: Die Frau mit dem Hartschalenkoffer ist erschöpft, die will keine unnötigen Schritte mehr tun, außerdem hat sie Sorge vor Zurückweisung. Die andere müsste zusätzlich noch eine Sprachbarriere überwinden. Ich bin die Jüngste von uns, und in mir regt sich Widerstand. Nicht auch das noch, ausgerechnet nach DEM Arbeitstag. Esse an der hässlichsten Ecke Ost-Berlins (super leckere) Dumplings und komm dann nicht nach Hause, bin durch, emotional, physisch, habe private Treffen und Gespräche für heute abgesagt, in mir brüllt einfach jede Faser WTF. Kurz denke ich darüber nach, einfach zu gehen. Da dreht sich die Frau mit dem Hartschalenkoffer um, sie steht frontal vor mir, die Arme hängend, sie sagt leise, aber bestimmt: Ich möchte lieber hier stehen bleiben. Das beeindruckt mich. Gut, denke ich oder ich denke nichts mehr, ich weiß ja, was zu tun ist. Wir sind zu dritt, ergo sind wir eine Gruppe, also füreinander verantwortlich. Gestern hielt der Bus noch hier, heute nicht, ich nehme sonst nie diesen Weg und mein kulinarischer Abstecher war auch nur eine spontane Eingebung; ich habe verstanden, ich akzeptiere.

Der pausierende Busfahrer ist super nett, er zeigt mir, wo der Bus halten wird und sagt, dass er auch derjenige sei, der ihn fährt. Dann also bis gleich, sage ich und der Busfahrer lacht fröhlich auf. Die beiden anderen sind schon unterwegs, mir fast voraus. Wir erreichen die Haltestelle, der Frau mit dem Hartschalenkoffer zeige ich auf dem Handy, wie weit sie am besten fährt, die andere Frau hat sich den ausgehängten Fahrplan angesehen und kommt besorgt wieder: wie sie denn mit dem Bus zum Ostkreuz käme, da halte der ja gar nicht. Wo sie denn genau hinwolle, frage ich. Sie nennt mir den Namen eines Restaurants. Ich sage, das kenne ich. Und: Da wohne ich. Wir steigen einfach zusammen aus, sage ich. Im Bus sind wir alle erleichtert, sogar Sitzplätze gibt es für uns. Ein Mann neben uns beteiligt sich an unserem Gespräch. Er könne von einem Polizeieinsatz an der Warschauer Straße berichten. Aber gestern war es auch schon so, sage ich. Das treibt ihm senkrechte Falten auf die Stirn. Gestern sei seines Wissens nichts passiert. Die Frau mit dem Koffer erkennt die Straßen nicht. Sie lebe in Biesdorf, direkt am Schloss, Friedrichshain sei ihr fremd. Wie lange sie noch fahren müsse. Ich sage, dass ich gerade am Wochenende in Biesdorf gewesen sei, im Schloss, tolle Ausstellung. Ja, nicht?, sagt die Frau, aber früher war’s schöner. Mit Partys, bis tief in die Nacht. Wir lächeln uns an. Die andere Frau wird von einer weiteren angetippt. Das mag die andere Frau nicht, gibt sie mir wenig später zu verstehen. Lieber zeigen, lieber winken oder mit großen Bewegungen auf sich aufmerksam machen, nicht aber ungefragt anfassen. Das fühl ich und sage: Ja, verstehe ich. Die Frau, die die andere Frau angetippt hat, ist nervös, weil auf dem Display im Bus keine Haltestellen angezeigt werden.

Wann weiß ich denn, wo ich raus muss, sagt sie. Ich komm aus dem Wedding, den ganzen Tag bin ich schon unterwegs, dann hab ich gesehen: Signalstörung, dann dachte ich, vielleicht gehst du einkaufen, nutzt die Zeit. Dann kickte aber mein Berlin-Hirn: immer das nehmen, was kommt – sonst kommste ja nicht von der Stelle. Tja, und jetzt sitz ich hier. Was für ein Mist.

Ich nicke, das stimmt. Ich habe zwischendurch noch was gegessen. Und: Sie müssen da raus, wo wir auch aussteigen, ich sag Ihnen einfach Bescheid. Die Frau mit dem Koffer lacht und sagt: unsere Reisegruppenleiterin. Der anderen Frau zeige ich mit den Fingern, dass wir um eine Person angewachsen sind. Fast glucksen wir darüber.

Dann sagen wir der Frau mit dem Koffer Tschüss. Davor zählen wir die Haltestellen auf, wie viele sie noch fahren muss. Draußen bringe ich die andere Frau zum benannten Restaurant. Ich sage, dass ich nur noch ein Stück weiter müsse, dann sei auch ich zu Hause. Wir wünschen uns alles Gute. Ich gehe weiter geradeaus, biege um die Ecke, laufe einmal um den Block, gehe zwei Haltestellen zurück, überquere einen Platz und ignoriere an einer Kreuzung die Ampel. Dann geht’s noch durch eine Einbahnstraße und schon bin ich so gut wie daheim.

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